Die Unschärfe der Welt

Fuzzyness und Präzision: Der entschärfte Blick der Iris Wolff

Iris Wolff | Die Unschärfe der Welt | Klett-Cot­­ta, 24,00 EUR

Es gab eine Zeit, die vor­wärts eilte, und eine Zeit, die rück­wärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzel­ner Augenblick.

Iris Wolffs »Die Unschärfe der Welt« hat mir die Buch­sai­son gerettet! — Wir haben ja immer eine sehr große Anzahl an Büch­ern in der Pipeline, denn die Ver­lage über­lassen uns ja wirk­lich viele Lese­ex­em­plare für die jew­eils neue Sai­son. Und es ist immer das gle­iche: Ich lese und lese, und eine stolze Anzahl Büch­er ist wirk­lich okay, aber der Funke will nicht so recht überspringen.

Natür­lich brauchen wir all die Ziel­grup­pen­büch­er und das ganze Lese­fut­ter und die zahllosen rat­ge­ber­ar­ti­gen Büch­er, aber irgend­wann komme ich immer an den Punkt, an dem ich denke: Wo bleibt denn hier das Lit­er­arische? Ich gebe zu, da beschle­icht mich bisweilen dur­chaus so ein latent gen­ervter Über­druss. An diesem Punkt war ich auch dieses Jahr wieder.

Doch dann schlich sich von rechts in mein Sicht­feld dieses Buch mit den schö­nen bun­ten Blät­tern auf dem Cov­er. »Lies halt mich«, glaubte ich es raunen zu hören. Und endlich, nach der pflicht­be­wussten Lek­türe von noch zwei weit­eren nur so okayen Krim­is, gab ich dem Gesäusel nach.

Und siehe es war — GUT.

Über sieben Brücken musst du geh’n

In »Die Unschärfe der Welt« verbinden sich die Lebenswege von sieben Per­so­n­en, sieben Wahlver­wandten, die sich trotz Schick­salss­chlä­gen und räum­lichen Dis­tanzen unaufhör­lich aufeinan­der zube­we­gen. So entste­ht vor dem Hin­ter­grund des zusam­men­brechen­den Ost­blocks und der wech­selvollen Geschichte des 20. Jahrhun­derts ein großer Roman über Fre­und­schaft und Verbundenheit.

Bedachtsamkeit als Stilprinzip

Aber steigen wir doch ein­fach direkt ein. Diese eine, willkür­lich gewählte Stelle hier verdeut­licht sehr gut das Organ­is­che, das Glei­t­ende in Wolffs Schreiben. Die Raf­fi­nesse liegt bei ihr in der schein­baren Einfachheit.

Kar­line lehnte an der Tür der Som­merküche. Sie hat­te das Geschirr ver­sorgt, die Herd­plat­ten gere­inigt, das Tis­chtuch abge­zo­gen. Johann war unter­dessen in der Laube eingeschlafen. Ein Schmetter­ling nahm seinen Bauch als Hügel. Er war dick­er, als ein Men­sch in dieser Zeit sein sollte, dachte sie. Wer Groll hegt, schluckt Gift und erwartet, dass der andere stirbt – und doch ärg­erte sie sich Tag für Tag über Johann, dessen Hand­lun­gen und Unter­las­sun­gen ein ständi­ger Unter­strom an Ärg­er für sie waren. Das Schweigen, das er ihr ent­ge­gen­brachte, war wie ein let­zter Beweis, dass auch ihm das abhan­dengekom­men war, was sie ein­mal Liebe genan­nt hatten.

Beein­druck­end daran ist aber auch die bedächtige Akzep­tanz, mit der die Autorin auf das Geschehen blickt. Mit ihr erzeugt sie die titel­gebende Unschärfe der Welt und lässt so ihren Lesern genau den Raum, den sie brauchen, um alle Res­o­nanzen und Bedeu­tungsebe­nen zu erkunden.

Die Autorin hat in einem sehr schö­nen Inter­view erk­lärt, was ihre Zielset­zung beim Schreiben dieses Buch­es war, und ich finde, dass sie alles davon erre­icht hat. Das liegt natür­lich zu allererst an der sorgfälti­gen Kom­po­si­tion. Ihre sieben Charak­tere entste­hen aus sich selb­st her­aus und sind mit so viel Zunei­gung und Empathie gestal­tet wie über­haupt nur vorstell­bar ist. Das nimmt die geneigte Leserin sofort mit und beschert ihr sieben neue Men­schen in ihrem Leben. Das ist das eine.

Aber auch die Handlung(en) erwach­sen förm­lich aus diesem Kos­mos ihrer glasklaren und doch poet­isch über­haucht­en Sprache. Da sitzen alle Meta­phern, da unter­füt­tert andächtige Natur- und Land­schaft­sprosa die Gedankengänge, da regiert eine Dialo­gregie, die so nicht vie­len von der Hand geht.

Da wird, anders will ich es nicht sagen, da wird Lit­er­atur zu Welt.

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