Rye Curtis | CLORIS | Beck Verlag, 24.00 EUR
Es ist schon erstaunlich, dass eine Frau den Herbst ihres Lebens erreichen kann, nur um festzustellen, dass sie sich selbst bislang im Grunde gar nicht recht gekannt hat.
Die irritierende Banalität des Normalen
Mr und Mrs Waldrip unternehmen einen Rundflug über den Bitterroot National Forest, einen Nationalpark, den sich Montana und Idaho teilen. Die Reise darf als außergewöhnliches Ereignis in dieser vierundfünfzigjährigen Ehe gelten, deren ermüdende Drögheit allenfalls von der aufreizenden Langeweile übertroffen wird, die das methodistische Gemeindeleben bietet, das den gesellschaftlichen Rahmen absteckt, in dem sich das Paar zeitlebens bewegt hat. Mr Waldrip ist ein selbstzufriedener, etwas farbloser Mansplainer, den Mrs Waldrip wiederum mit latent zynischer Zuneigung zum Mittelpunkt ihres bis dato unspektakulären Lebens gemacht hatte: »Die Berge zogen am Fenster vorbei, und während Mr Waldrip über Karussellbewässerungsanlagen palaverte, schlief ich ein.«
Und dann stürzt das Flugzeug ab. —
Um mich herum war alles still. Dann hörte ich ein Pfeifen wie von einem Teekessel. Ich öffnete die Augen.
Tod und Wildnis
Überflüssig zu sagen, dass nur Cloris Waldrip überlebt. Nicht überflüssig ist dagegen die Anmerkung, dass die unbarmherzige Akribie der folgenden Seiten ein erstaunliches Zeugnis erzählerischer Kaltblütigkeit ist, das nur ganz wenigen gelingt. Denn zwar ist Mr Waldrip tot (er hängt unerreichbar in einem Baum), doch Terry, der Pilot, hat schwerverletzt überlebt und kommt wieder zu sich. Auch er hängt unerreichbar für Cloris in seinem Sicherheitsgurt über dem Abgrund. Quälend lange dauert sein Delirium in den Tod. Curtis erspart uns nichts und zeichnet seinen Todeskampf en détail nach. Das ist nicht schön und liest sich doch grausam faszinierend.
Wildnis und Philosophie
Wer jetzt aber glaubt, dies sei der Auftakt zu einer herkömmlichen Wildnis- und Abenteuergeschichte, hat recht und unrecht zugleich. Natürlich geht es um die Wildnis und den erfolgreich gefochtenen Überlebenskampf der Protagonistin. Gleichzeit aber macht Rye Curtis, ähnlich wie Marlen Haushofer ihren berühmten Roman Die Wand, zu einer starken Metapher für existenzphilosophische Fragen. Wie weit gehen wir, um zu überleben? Wie wahr ist unser Bild von uns selbst? Welche Handlungen zählen: die vergangenen oder gegenwärtigen? — Nicht nur Cloris überrascht uns mehrfach, auch die Nebenfiguren stehen längst bereit, die eine oder andere unserer Gewissheiten kräftig ins Wanken zu bringen.
… zweiundsiebzigjährige Frauen sind nicht gerade dazu bestimmt, irgendwo herumzukraxeln.
… ist nur eine davon.