»Fehlstart« gelungen!

Mar­i­on Messi­na | Fehlstart | Hanser | 12,00 EUR

»Bei mir geht es um Men­schen, die sin­n­freie Jobs machen, die sich erniedrigt fühlen, müde und aus­ge­bran­nt.« | Mar­i­on Messina

Frankreich, unsere Zwillingsseele

Mit Mar­i­on Messi­na und ihrem Erstling »Fehlstart« präsen­tiert der Hanserver­lag dem deutschen Pub­likum eine neue franzö­sis­che Autorin. Und der Titel ist Pro­gramm. Messi­na nimmt uns — ähn­lich wie Sophie Divry — mit in ein Frankre­ich, das meilen­weit ent­fer­nt ist von der Grande Nation, die sich so gerne sel­ber feiert. Nein, wir ler­nen das Innere ein­er Gesellschaft ken­nen, die unser­er eige­nen ger­adezu zwilligshaft ähn­lich ist.

Heuchelei als Raison d’être

Verun­sicherung und Ori­en­tierungslosigkeit durchziehen leit­mo­tivisch das Geschehen. Aure­lie heißt die Qua­si-Heldin dieser Qua­si-Com­ing-of-Age Geschichte. Sie entstammt ein­er Arbeit­er­fam­i­lie, die ihre Wün­sche zwar nicht wirk­lich ver­ste­ht, die sie aber den­noch auf ihre Weise stets getreulich lieb­hat. Sie hat­te geglaubt, dass Bil­dung ein Weg hin­aus aus ihren engen und hin­auf in die besseren Ver­hält­nisse wäre. Doch als sie ihr Studi­um aufn­immt, ver­liert sie ihren Schwung. Nichts ist wie gedacht, nichts wie erhofft. Umstellt von den unsicht­baren Glaswän­den gesellschaftlich­er Abschot­tung gelingt es ihr nicht, ihre Ziele zu entwickeln.

Ihrem kolumbian­is­chen Qua­si-Fre­und und Sex­part­ner geht es kaum anders. Er inter­pretiert sein mis­er­ables Leben zwis­chen miesem Dien­stleis­tungsjob, Studi­um und gele­gentlichen Spanis­chlehreraufträ­gen als eine Art freies Leben, sieht sich irgend­wie als Bohemi­an. In sein­er Fig­ur han­delt Mar­i­on Messi­na vor allem den Umgang Frankre­ichs mit seinen Immigrant*innen ab. Und hier sehen wir eine weit­ere unheim­liche Ähn­lichkeit zu unser­er eige­nen Gesellschaft: Auch Frankre­ich zer­reibt seine Immigrant*innen erbar­mungs­los zwis­chen Assim­i­la­tion und Exotismus.

Skalpell statt Narrativität

Mar­i­on Messi­nas Wut und Schärfe erin­nern mich an die Büch­er von Édouard Louis und Vir­ginie Despentes. Auch Messi­na erschafft weniger eine Welt als einen Diskurs. Sie braucht keine üppig gestal­tete Welt, ges­tat­tet ihren Fig­uren kaum eine (miter­leb­bare) Entwick­lung. Ihr Ziel ist die Abrech­nung und ihr Weg die Analyse. Das ist in gewiss­er Weise sehr franzö­sisch, denn bere­its Voltaires Nov­el­le Can­dide trägt stark the­sen­hafte Züge. Und so regieren in  »Fehlstart« der Diskurs und das Argu­ment. Dabei hil­ft die Wut, die Widrigkeit der Welt einzuord­nen, denn am Ende erken­nen wir,

[…] dass ihre Empfind­un­gen kollek­tiv sind und dass sie struk­turelle Ursachen haben. Nein, ihr habt euer Leben nicht ver­saut, weil ihr mal in der Schule keine exzel­lente Note bekom­men habt. Lit­er­atur kann dieses Schuldge­fühl spren­gen, kann sagen, das Auf­stiegsver­sprechen in der franzö­sis­chen Gesellschaft […] gibt es nicht mehr.

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