Ulla Lenze | Der Empfänger | Klett-Cotta, 22,00 EUR
Im Warten ist er gut, er hat acht Jahre nichts anderes getan.
Josef Klein wandert noch vor dem Krieg nach Amerika aus. Antisemiten, Rassisten und deutsche Nationalisten feiern auch dort fröhliche Urstände. Doch Josef interessiert das alles wenig. Er vertrödelt seine Tage zwischen Gelegenheitsjobs und seiner Leidenschaft, dem Amateurfunken.
Ulla Lenze hat auf der Basis der Lebensgeschichte ihres Großonkels einen bemerkenswerten, ja einen großartigen Roman geschrieben. Nicht umsonst ist sie mit nur fünf Romanen bereits eine hochdekorierte Autorin. So hat sie bereits 2003 den Ernst Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Zuletzt erhielt sie den Niederrheinischen Literaturpreis 2020 und wurde zur Bonner Stadtschreiberin 2020 ernannt.
Ulla Lenze besitzt in fast schon unheimlichem Ausmaß die Gabe, sich in ihre Figuren einzufühlen. Ganz besonders überzeugend wird der Text dabei immer dann, wenn sich die Autorin geradezu lautlos an ihren Protagonisten heranschleicht.
Der Sound der Welt des Josef K.
Am besten geht das, wenn Josef alleine mit seinem Empfänger ist:
Er schaltete den Apparat an und nahm Platz. Leise Signale tröpfelten durch einen Strom aus Knistern und Pfeiftönen. Er sendete sein Rufzeichen, dann ein CQ, come quick. Er wiederholte das ein paar Mal und genoss das Weltraumrauschen und Knistern, das Gefühl, die ganze Welt zu sich strömen zu lassen.
Diese metaphorische Umsetzung des Akkustischen in die Welt des Wassers ist ein beeindruckendes Beispiel ihrer literarischen Kunstfertigkeit. Und ich weiß zwar nicht, wie es anderen geht, aber ich muss bei dieser Stelle immer an Space Oddity von David Bowie denken. Dort finde ich, vor allem in den ersten paar Akkorden, dieselbe verlorene Weite, die aus diesen vier großen kleinen Sätzen spricht. Und überhaupt: Musik. Die Autorin setzt sie — insbesondere den Jazz des multikulterellen Harlems, in dem Josef Klein lebt — immer wieder als zusätzliche Bedeutungsinstanz ihrer Schilderung ein.
Zu Hause legte er After Hours auf. Dieser gemütlich lässige Blues und der gelangweilt herumklimpernde Avery Parrish und wie erst gegen Ende das Blasorchester einsetzte, great, dachte er, und ließ es von vorne spielen. Er spürte die Wände und Gegenstände, und er spürte sich selbst. Das hier war sein Leben.
Der Roman besitzt geradezu seinen eigenen Soundtrack, der subtil die stille Sehnsucht Josefs danach ausdrückt, irgendwie über die eigenen einfallslosen Grenzen hinaus zu gelangen.
Der gute Mensch als Handlanger des Bösen
Doch hilft es alles nichts. Auch Josef muss sein Leben in der Realität leben. Und die holt ihn ein, als er ins Visier der Nazis gerät, die ihn als Funker für ihre Zwecke einspannen. Ulla Lenze gelingt es hervorragend, das Ungefähre, das Phlegmatische im Charakter ihres Protagonisten als zentralen Charakterzug zu erzählen. Was sie hier in Szene setzt ist letztlich der Mensch als Handlanger, oder genauer noch: als Mitläufer. Das ist präzise und bleibt doch menschlich, denn Josef gerät ihr eben nicht zum Zerrbild. Der Fortgang der Geschichte führt ihn später erst ins Nachkriegsdeutschland zu seinem Bruder und dann nach Argentinien. Und auch hier gestattet die Autorin uns weiter die Seelenlandschaft ihres Protagonisten kennenzulernen und an seinem (plausibel gemutmaßten) Innenleben teilzuhaben.
Um es kurz zu machen, Ulla Lenze schreibt nicht nur sehr schön. Sie ist eine Schriftstellerin von herausragendem Können. Mit »Der Empfänger« ist ihr ein Roman geglückt, der lesbar und spannend wie er ist, dem Wunsch nach Unterhaltung auf jeden Fall entgegenkommt. Aber mehr noch ist ihr darüberhinaus ein Roman gelungen, der Bedeutung hat, weil die Autorin etwas zu sagen hat. — Dem Horizont seiner Leserinnen und Leser tut das gut!